Die Lieder mit Vogelmotiven in der Folklore der Nordwestslawen und Ostslawen haben ihren Bezug auf konkrete Naturphänomene im Allgemeinen verloren. Ihre Existenz ist in den neueren und neueseten Zeiten fast immer allegorisch auf das Leben des Menschens in seinem sozialen Umfeld bezogen.
Dabei lassen sie in ihrer Inhaltsstruktur verschiedene Genreschichten, Modifikationen und Umbildungen erkennen, die mit ihrem Existenz- und Funktionsbereich verknüpft sind. Das Motiv der Vogelhochzeit, das anfangs dominant war und mit dem entsprechenden archaischen Brauch verbunden ist, findet sich noch am deutlichsten (wenn auch nur formal) in der sorbischen Folklore. Gründe dafür liegen darin, dass der Brauch Ptači kwas selbst in der Volkskultur der Sorben erhalten geblieben ist sowie im hohen axiologischen Status der traditionellen sorbischen Hochzeit. In der Kultur der anderen slawischen Völker, die den Brauch der Vogelhochzeit als Ritual längst verloren haben, wurden die Lieder von der Vogelhochzeit an andere Bräuche und kulturelle Situationen angepasst. In der polnischen Folklore werden Feierlichkeiten der Vögel (gody) häufig kontaminiert mit Sujets der Betlehems-Geschichte dargestellt, so dass im Ergebnis zahl-reiche volkstümliche Weihnachtslieder (kolędy) entstanden, in denen Vogelallegorien vorkommen. Aufgrund verschiedener funktionaler Überlagerungen kann das Motiv der Eheschließung, das anfangs als das grundlegende aufgetreten ist, verloren gehen und durch das Motiv des Festmahls, des Feierns mit der Vorbereitung und dem Konsum alkoholischer Getränke oder durch das Motiv des Ruhm-Zusprechens (für den neuge-borenen Christus) ersetzt werden. Entsprechend haben die Lieder von der Vogelhochzeit oder vom Festmahl der Vögel ihre Verbindung zu einem Hochzeitsbrauch verloren und wurden dabei zu Weihnachtsliedern (in der polnischen Folklore), Tanzliedern, Tisch- und Trinkliedern oder Scherzliedern (in der Folklore der ostslawischen Völker). Im Nor-malfall konnte der christliche kulturelle Kontext dabei auf die ideelle Ausrichtung dieser Lieder relativ stark einwirken.
Lieder mit Vogelmotiven konnten in der Folklore der nordwest- und ostslawischen Völker auch ursprünglich nicht mit dem Brauch der Vogelhochzeit verbunden sein, wenn sie auf die intellektuelle Entwicklung und Erziehung von Kindern orientiert waren. Aber auch diese Lieder wurden in inhaltlicher Hinsicht aktiv verändert: schrittweise und unauffällig wurden sie mit ethischer und sozialer Problematik durchsetzt, außerdem nahmen sie spielerische Elemente an und funktionierten als effektives Mittel zur Gene-rierung positiver Emotionen. Der Grad, bis zu dem ein solches Lied umgestaltet wurde, hing vom konkreten ethnografischen Kontext ab, vom Interesse einzelner Personen (Sänger), das Lied beim Vortrag umzugestalten, von Bestrebungen, das Lied an eine neue Brauchtumsform oder eine soziale (auch didaktische) Situation anzupassen. Wenn der Charakter dieser Änderungen auch zur Umwandlung der Genrezugehörigkeit von Liedern mit Vogelmotiven führte, so haben diese doch in inhaltlicher Hinsicht alle Funktionen traditioneller volkstümlicher Rituale beibehalten, die Julia Chamrina auf-zählt: eine Sozialisierungsfunktion, die Funktion sozialer Integration und Differenzie-rung, eine psychotherapeutische Funktion und ebenso die Funktion zur Bewahrung des sozialen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Solche Lieder stellen in der Form von Vogelallegorien häufig besonders typische Arten sozialer und psycho-logischer Interaktion dar: Zusammenarbeit, Mitgefühl, gegenseitige Hilfe, freundschaft-liche Unterstützung, aber auch Streit, Konflikt und tätliche Auseinandersetzungen. Der inhaltliche Kontext der Lieder unterstützt den Rezipienten dabei, rechtmäßiges und fehlerhaftes Handeln zu bewerten.
Die Pragmatik der slawischen Lieder von der Vogelhochzeit wurde in neuerer und neuester Zeit aus der Sphäre des traditionellen Brauchtums in eine Sphäre der Ethnopädagogik übertragen. Diese Lieder mit Vogelmotiven enthalten Elemente, die sowohl für Bildung als auch Erziehung relevant sind, nicht zuletzt in der interkulturellen Kom-munikation. Sie sind nicht einfach nur Mittel der Schulung mnemonischer Fähigkeiten bei Kindern, sondern sollen auch eine reizvolle Form des künstlerischen Diskurses darstellen, indem sie positive und negative Handlungsstrategien der Individuen modellieren.